Modul F: Der Völkermord an Sinti und Roma im Nationalsozialismus – historische und gegenwärtige Formen von Antiziganismus

Kathrin Herold

 

Zielgruppe
MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes, insbesondere aus der Verwaltung und der Polizei, aber auch andere Gruppen, die sich mit gesellschaftlichen Prozessen von Ausgrenzung und Diskriminierung befassen möchten

 

Themen, Fragestellung und Ziele
Anders als Antisemitismus stoßen sowohl die Bezeichnung Antiziganismus als auch die lange Tradition des Phänomens in aller Regel bei SeminarteilnehmerInnen auf fast vollständige Unkenntnis. Das Thema der Ressentiments gegen Sinti und Roma erzeugt mehr Abwehr als Neugierde. Projiziert auf diese gesellschaftlichen Gruppen, so bestätigen es auch einschlägige Studien, gibt es in der Bundesrepublik Deutschland und europaweit erhebliche Vorurteile.

 

Sinti und Roma, bzw. präziser die Gruppen der von den Nationalsozialisten als „Zigeuner“ Verfolgten und Ermordeten, waren auch nach 1945 stigmatisiert. Der Bundesgerichtshof attestierte den Betroffenen im Jahr 1956 in einem Urteil deviantes Verhalten; sie seien im Nationalsozialismus erst seit 1943 aufgrund „rassischer Kriterien“ verfolgt worden. Damit war ein Großteil der geschädigten Sinti und Roma von Entschädigungszahlungen ausgeschlossen und die Bezugnahme auf den bereits vor 1933 massiv praktizierten behördlichen Rassismus und dessen Fortführung durch die Nationalsozialisten wurde zur Legitimationsgrundlage fortgesetzter Diskriminierungen. Gemäß einer derart verbrieften Mitschuld der Verfolgten ließ auch eine offizielle Anerkennung der Taten über vier Jahrzehnte auf sich warten. In der Regel verweigerten Angehörige der Mehrheitsgesellschaft sowie der Behörden den Überlebenden Empathie und Unterstützung. Stattdessen setzten sich Ausgrenzung und Verfolgung massiv fort, sei es durch kriminalpolizeiliche Erfassung oder durch alltägliche Ressentiments und Diskriminierungen im Bezug auf Ausbildung, Arbeit und Wohnen.

 

Mittlerweile wird bei offiziellen Gedenkanlässen dieser Opfergruppe des Genozids zwar (mit-)gedacht, Strukturen und handelnde Personen der Verfolgung und Vernichtung werden jedoch weiterhin kaum thematisiert. So bleibt es häufig bei dem „schwammigen“ Appell, Verantwortung zu übernehmen und Menschenrechte zu achten, ohne gegenwärtige Adressaten dieses Appells zu benennen.

 

Das Modul setzt bei der historischen Handlungsperspektive von öffentlicher Verwaltung und Kriminalpolizei an und ist insofern besonders gut für Gruppen aus der Verwaltung und angehende Polizeiangehörige geeignet. Es möchte die Leerstellen in der Benennung der Verantwortlichkeiten schließen und das kritische Nachdenken über das Handeln und den eigenen Berufsalltag von MitarbeiterInnen öffentlicher Institutionen befördern, in dem es eine Auseinandersetzung mit den Lebensverhältnissen und den staatlichen Formen der Diskriminierung von Sinti und Roma anregt. Der hier vorgestellte Ansatz für politische Bildungsarbeit mit MitarbeiterInnen des öffentlichen Dienstes versucht, Verbindungen zwischen damals und heute zu thematisieren sowie diese gesamtgesellschaftlich zu kontextualisieren. Besonderes Augenmerk wird dabei auf die historische und die aktuelle Rolle der öffentlichen Verwaltung im Umgang mit Sinti und Roma gelegt.

 

Im Seminar wird aufgezeigt, dass die Behandlung der Sinti und Roma nicht alternativlos war und ist, sondern eng mit deren öffentlicher Wahrnehmung verknüpft ist. Der Zusammenhang von struktureller Ausgrenzung und Armutskreisläufen zeigt sich unter anderem im Handlungsbereich von Entschädigungsämtern und Ausländerbehörden. Abschiebungen langjährig geduldeter Roma-Flüchtlinge aus dem Kosovo bilden ein aktuelles Diskussionsfeld innerhalb des bestehenden Diskurses um Einwanderung und Integration. Für Verwaltungsauszubildende bieten sich im eigenen Arbeitsumfeld vielfältige Anknüpfungspunkte für das Spannungs- und Handlungsfeld zwischen legislativer Anweisung und administrativer Ausführung, das auch mit realen oder angenommenen Dilemmasituationen verbunden ist, wie folgendes Zitat einer Seminarteilnehmerin deutlich macht: „Wir im mittleren Dienst haben keinen Handlungsspielraum, wir haben einen Eid geleistet, die Gesetze der Bundesrepublik zu befolgen. Wir müssen qua Beruf auf die Richtigkeit dieser Entscheidungen und Einschätzungen vertrauen, wir können da nicht aus Mitleid oder Menschlichkeit mal eben anders entscheiden […] wenn die Vorgabe eine andere ist.“ Die Verpflichtung, geltende Gesetze zu befolgen, und das Vertrauen auf die staatlichen Vorgaben werden also dahingehend interpretiert, keinen eigenen Entscheidungsspielraum zu haben. Diese fraglose Anerkennung geltender Bestimmungen ist wohl auch die Ursache, weshalb es so schwer war, die TeilnehmerInnen zu motivieren, kritisch zu urteilen und Gewohntes zu hinterfragen. Auch angenommene gesellschaftliche Tabus kamen in den bisherigen Seminaren zur Sprache. So wurde von manchen TeilnehmerInnen die Meinung vertreten, dass bezogen auf die Gruppe der Sinti und Roma politisch korrektes Sprechen erwartet werde: „Man darf ja nicht Zigeuner sagen, obwohl die das doch selber sagen.“

 

Angesichts dieser Ausgangsbedingungen stellt sich die Frage, wie die TeilnehmerInnen für das Thema Antiziganismus und die daran geknüpften historischen und aktuellen Fragen sensibilisiert werden und nachhaltige Denkanstöße gegeben werden können. Die Auseinandersetzung mit historischen und aktuellen gesellschaftlichen Vorurteilen gegenüber Sinti und Roma ermöglicht, den Status quo zu hinterfragen und individuelle Perspektiven und Handlungsweisen zu entwickeln.