Module G: Sicherungsverwahrung in historischer und aktueller Perspektive

Katharina Möller/Ulrike Pastoor

 

Zielgruppen
Gruppen aus der Justiz (insbesondere aus dem Strafvollzug sowie RechtsreferendarInnen), Polizei und Politik, gesellschaftliche MultiplikatorInnen und Lehrkräfte

 

Thema, Fragestellung und ZieleIn diesem Modul werden die historische und die aktuelle Anwendung der Sicherungsverwahrung thematisiert, die in Deutschland im November 1933 mit dem „Gesetz gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher und über Maßregeln der Sicherung und Besserung“ eingeführt wurde und in veränderter Form bis heute besteht. Die Behandlung des Themas bietet sich daher unter dem Gesichtspunkt der Vernetzung aktueller und historischer Fragen an. In dem Modul werden die Rahmenbedingungen der Sicherungsverwahrung im Nationalsozialismus anhand von Beispielen vorgestellt und mit den rechtlichen Bedingungen sowie den Situationen von Sicherungsverwahrten heute verglichen. Über die Vermittlung historischer und juristischer Inhalte hinaus wird der Fokus dabei auf Fragen des Verhältnisses von Sicherheit und Freiheit, der Universalität der Menschenrechte sowie von Recht und Moral in der Gesellschaft gerichtet. Den Seminarteilnehmenden ist in der Regel aus den Medien bekannt, dass es heutzutage die Möglichkeit der richterlichen Anordnung der Sicherungsverwahrung für bestimmte Straftäter gibt. Je nach Berufsgruppe haben sie sich in ihrer Ausbildung oder im Berufsalltag bereits damit beschäftigt. Irritation entsteht zumeist, wenn bekannt wird, dass dieses Instrument unter den Nationalsozialisten eingeführt wurde, zum Teil mit tödlichen Folgen für die Betroffenen durch schlechte Haftbedingungen und Einweisungen in Konzentrationslager.

 

Die Teilnehmenden lernen die Personengruppen kennen, die im Nationalsozialismus als Sicherungsverwahrte verfolgt wurden. Sie erfahren, dass die Betroffenen ab 1942 infolge einer Absprache zwischen dem Justizminister und der Polizei zu einem großen Teil aus der Verantwortung der Justiz entlassen und in die Konzentrationslager eingewiesen wurden. Dort waren die als „asozial“ und „unerziehbar“ aus den Haftanstalten Selektierten unmenschlicher Behandlung ausgesetzt; viele von ihnen starben. Die Teilnehmenden erfahren zudem, dass die Sicherungsverwahrung in der Bundesrepublik Deutschland auf den im Nationalsozialismus geschaffenen rechtlichen Grundlagen basierte und unter welchen Voraussetzungen sie weiterhin verhängt wurde. Außerdem setzen sie sich mit Gesetzesänderungen und aktuellen Regelungen auseinander. Wichtige Diskussionspunkte sind die internationale Kritik an der Sicherungsverwahrung in Deutschland und die Reaktionen deutscher Gerichte und weiterer zuständiger Stellen auf diese Kritik.

 

Die Teilnehmenden sollen Veränderungen und Kontinuitäten in der Praxis der Sicherungsverwahrung, aber auch im gesellschaftlichen Umgang mit Sicherungsverwahrten beurteilen lernen. Ziel ist es, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in der Behandlung und Unterbringung von Sicherungsverwahrten zu verschiedenen Zeiten mit gesamtgesellschaftlichen Entwicklungen in Beziehung zu setzen. Wie werden öffentliches Sicherheitsinteresse einerseits und die Freiheitsrechte der Betroffenen andererseits gewichtet? Anhand der Erfahrungen aus dem Nationalsozialismus kann aufgezeigt werden, wie sich Normen staatlichen Handelns und zivilgesellschaftlicher Praxis verschieben können und welche Bedeutung vor diesem Hintergrund z. B. der strikten Einhaltung von Rechtsstaatlichkeit zukommt. Auf individueller Ebene können die Teilnehmenden ihre persönlichen (Vor-)Urteile überprüfen. Häufig werden in den Medien Sicherungsverwahrte als Gewalt- und Sexualstraftäter präsentiert; bei näherer Beschäftigung kann jedoch festgestellt werden, dass bis in das Jahr 2013 die Deliktgruppen vielfältiger waren.

 

Die in der Bundesrepublik praktizierte Sicherungsverwahrung wurde 2009 und 2011 durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte kritisiert. Dies führte in den folgenden Jahren zu Entlassungen von Sicherungsverwahrten, die anschließend unter Polizeischutz standen. Mittlerweile ist eine gesetzliche Neuregelung der Sicherungsverwahrung erfolgt. Im November 2012 wurde das „Gesetz zur bundeseinheitlichen Umsetzung des Abstandsgebotes im Recht der Sicherungsverwahrung“ verabschiedet. Es trat zum 1. Juni 2013 in Kraft. Dieses Gesetz sieht vor, dass die Unterbringung der Sicherungsverwahrten getrennt vom Strafvollzug stattfinden soll und die Einrichtungen der Unterbringung darauf zugeschnitten sind, eine Therapie der Sicherungsverwahrten individuell anzubieten. Die Unterbringung soll das langfristige Ziel der Bewährung oder der dauerhaften Entlassung befördern.

 

Mit der Neuordnung der Sicherungsverwahrung, dem Befolgen des Abstandsgebotes sowie der Einschränkung der nachträglichen Sicherungsverwahrung ist der Kritik des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte formal Genüge getan. Das Instrument der Sicherungsverwahrung besteht aber fort. Es lohnt sich weiterhin, über dieses Instrument zu diskutieren und sich mit der Frage des Verhältnisses zwischen der individuellen Freiheit des Straftäters und des Sicherheitsbedürfnisses der Bevölkerung auseinanderzusetzen.

 

Damit die Teilnehmenden den Transfer zwischen früher und heute herstellen können, werden Materialien beider zeitlicher Ebenen in den Arbeitsgruppen miteinander verzahnt. Dadurch werden auch die menschenrechtlich problematischen Aspekte der vergangenen wie der bis vor kurzem gegenwärtigen Praxis der Sicherungsverwahrung deutlich. Vor der historischen Folie können gesamtgesellschaftliche Fragen am Beispiel der Sicherungsverwahrung aufgeworfen und diskutiert werden. Durch einen Einstieg mit einer kontroversen aktuellen Debatte kann an die aktuelle Lebenswelt der Teilnehmenden angeknüpft und die heutige Relevanz des Themas aufgezeigt werden. Beim Meinungsbarometer wird den Teilnehmenden Raum gegeben, sich zu positionieren und es wird eine Diskussion angestoßen, bei der die jeweiligen Positionen argumentativ überprüft werden können. Die Widersprüchlichkeit mancher Standpunkte kann durch diese Methode sichtbar und damit diskutierbar gemacht werden.