Modul L: Die Umformung der Justiz im Nationalsozialismus und die Aufarbeitung von NS-Verbrechen nach 1945

Andreas Strippel

 

Zielgruppen
JustizvollzugsschülerInnen, RechtshelferInnen und RechtsreferendarInnen, MitarbeiterInnen von Bildungseinrichtungen

 

Themen, Fragestellungen und Ziele
Schon vor der Machtergreifung stellte die NSDAP in ihrem Parteiprogramm klar, dass sie eine Umformung des Rechts nach ihren Vorstellungen anstrebte. An die Stelle des vorhandenen Rechtssystems sollte ein „deutsches Gemeinrecht“ treten, das jedoch nicht näher definiert wurde. Der Staat sollte Ausdruck einer „organisch“ verstandenen „Volksgemeinschaft“ werden, die sich an ebenfalls kaum definierten Begriffen wie Rasse, Treue, Wehrhaftigkeit oder Arbeitskraft orientierte und in der die Rechte Einzelner stark eingeschränkt waren. Die Parole „Recht ist, was dem Volke nützt“ war Kern des nationalsozialistischen Rechtsverständnisses.
Der nationalsozialistische Staat verwarf wesentliche Grundsätze der bisherigen Rechtslehre. Die Gewaltenteilung, die Gleichheit aller Menschen vor dem Recht sowie das Rückwirkungsverbot wurden außer Kraft gesetzt. Die neu eingerichteten Sondergerichte, der Volksgerichtshof und das neu geschaffene Reichsverwaltungsgericht blieben zwar formal dem Justizministerium unterstellt, waren aber Ausdruck des politischen Primats des NS-Regimes gegenüber der Justiz. So kannten z.B. die Sondergerichte keine Revision. Auch die Tätigkeiten der Polizei waren teilweise der rechtlichen Überprüfung entzogen.
Die fundamentalen Rechtsprinzipien des Rückwirkungs- und des Analogieverbots (keine Strafe ohne Gesetz) wurden außer Kraft gesetzt. Darüber hinaus schuf der NS-Staat auf Grundlage der Reichstagsbrandverordnung neue Gesetze, um seine Vorstellungen zu verankern. Grundrechte wurden eingeschränkt bzw. aufgehoben. Die Rassegesetze hoben die Gleichheit aller Menschen vor dem Gesetz auf. Bestimmte gesellschaftliche Gruppen wurden als sogenannte Asoziale oder Berufsverbrecher kriminalisiert.
Eine weitere Änderung betraf das Strafrecht. Mit der Ausrichtung am sogenannten „Willensstrafrecht“, bei dem die Gesinnung des Beschuldigten im Fokus stand, vergrößerte sich der Ermessensspielraum der Richter bei der Entscheidung über das Strafmaß. Zudem wurde die Möglichkeit, die Todesstrafe zu verhängen, massiv erweitert. War 1933 lediglich für drei Tatbestände die Todesstrafe vorgesehen, so waren es am Ende des „Dritten Reiches“ 46 Tatbestände. Die neuen Gesetze und das nationalsozialistische Rechtsverständnis gestatteten den Richtern eine Rechtsauslegung, die es ermöglichte, für jedes Vergehen die Todesstrafe zu verhängen. Zivilgerichte verhängten im Zweiten Weltkrieg insgesamt ca. 16.000, die Kriegsgerichte ungefähr 30.000 Todesurteile. Die SS- und Polizeigerichtsordnung orientierte sich am Militärstrafrecht, das auch für die Angehörigen der SS galt, die in den Konzentrationslagern eingesetzt waren. Für die Häftlinge galt die Lagerordnung, die die SS in der Praxis willkürlich verschärfen oder ganz umgehen konnte, ohne dafür bestraft zu werden.
Einen weiteren thematischen Aspekt bildet die juristische Aufarbeitung des Nationalsozialismus durch die Alliierten. Bereits 1943 einigten sich die Alliierten darauf, die Verbrechen der deutschen Besatzer in Europa zu ahnden. Im Herbst desselben Jahres wurde die „United Nations War Crimes Commission“ ins Leben gerufen, die die Grundlage für das Londoner Abkommen über die Verfolgung und Bestrafung der Hauptkriegsverbrecher erarbeitete. Neben dem Prozess gegen die Hauptkriegsverbrecher fanden auch Prozesse in den jeweiligen Besatzungszonen statt. In der britischen Besatzungszone bildeten die „Regulations for the Trial of War Criminals made under Royal Warrant“ vom 14. Juni 1945 die rechtliche Grundlage für die Prozesse.
In diesem Modul liegt der Schwerpunkt auf drei Aspekten: die Umformung der Justiz im Nationalsozialismus, die Behandlung der SAW-Häftlinge in den Konzentrationslagern (SAW stand für „Sonderabteilung Wehrmacht“, „Sonderaktion Wehrmacht“ oder „Schutzhaft aus der Wehrmacht“) und die Curiohaus-Prozesse in der britischen Besatzungszone.
Zum ersten Aspekt: Das Seminar behandelt die grundlegenden Unterschiede zwischen dem nationalsozialistischen Justizapparat und den rechtsstaatlichen Systemen der Weimarer Republik und der Bundesrepublik Deutschland. Die Rolle der Sondergerichte im nationalsozialistischen Rechtssystem als Scharnier zwischen Normen- und Maßnahmenstaat soll dabei herausgestellt werden, um zu verdeutlichen, dass der Anschein eines geregelten Rechtssystems gewahrt wurde, die Justiz jedoch zunehmend zu einem bloßen Instrument der Durchsetzung nationalsozialistischer Rechtsvorstellungen wurde. In einigen Bereichen kann auch von einer bewussten Abgabe von Aufgaben, die den Kern juristisches Handelns bilden, an die Exekutive (insbesondere die Polizei) gesprochen werden, wie die Praxis der Überstellung von sogenannten Asozialen und Berufsverbrechern in das System der Konzentrationslager beweist.
Zum zweiten Aspekt: Die Behandlung der SAW-Gefangenen greift das Handeln der Militärjustiz im Nationalsozialismus auf. SAW-Häftlinge wurden entweder aus den „Sonderabteilungen“ von Heer, Marine oder Luftwaffe oder aus dem Strafvollzug der Wehrmacht, also aus Wehrmachtsgefängnissen, Strafabteilungen oder Feldstraflagern, in die Konzentrationslager überstellt. Die Behandlung dieser kleinen Häftlingsgruppe zeigt exemplarisch das eskalierende Strafsystem der (Wehrmachts-)Justiz im Krieg auf. Anhand dieses Beispiels wird danach gefragt, welche Vorstellung die Justiz von Arbeit als disziplinierendem Instrument im KZ-System hatte.
Zum dritten Aspekt: Die juristische Aufarbeitung der im KZ Neuengamme und in seinen Außenlagern verübten Verbrechen durch die britische Besatzungsmacht bildet den Abschluss dieses Themenkomplexes. Die rechtlichen Grundlagen sollen ebenso wie die rechtliche Praxis untersucht und darüber hinaus soll mit den TeilnehmerInnen die strafrechtliche Verfolgung in der Bundesrepublik erarbeitet werden. Das Hauptaugenmerk liegt auf den Fragen nach der Rechtsgrundlage der Verfahren, ihrer Durchführung sowie den Urteilsbegründungen. Die Unterschiede zwischen den britischen Verfahren und denen in der Bundesrepublik werden ebenfalls thematisiert.